Unterwegs mit der Band Provinz: Auf dem Sprung

2022-10-09 04:38:52 By : Ms. Jenny Yu

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7. Oktober 2022 · Der Hype war da, doch dann kam die Pandemie. Mit zwei Jahren Verspätung hat die Band Provinz ihren ersten großen Festival-Sommer gespielt – und das soll erst der Anfang sein. Ein Besuch zu Hause in Oberschwaben und auf Tour.

Die Lage ist wie gemacht, um Stadtbewohner neidisch zu machen. Satte grüne Wiesen, nur selten gestörte Ruhe und am Horizont zeichnen sich die Umrisse der Alpen ab. Was Besucher beeindruckt, kennen Vincent Waizenegger (23 Jahre alt), Robin Schmid (28), Leon Sennewald (23) und Moritz Bösing (30) nicht anders. Sennewald stammt aus Waldburg, die drei anderen aus dem wenige Kilometer entfernten Vogt. Einfacher ist es aber ohnehin, wenn die Band sich als „Provinz aus der Nähe von Ravensburg“ vorstellt.

Rund zwanzig Autominuten sind es von dort bis nach Waldburg, wo sich die Band in einem alten Haus am Dorfrand eingemietet hat. „Die Strecke sind wir sicher schon tausende Mal gefahren“, sagt Sänger Waizenegger auf dem Weg zu ihrem „HQ“, wie sie die Band-Zentrale in nennen. Einst war es ihr Schulweg. „Früher hat es extrem genervt, wenn du abends immer den letzten Bus nehmen musstest, aber wenn du viel unterwegs bist, lernst du sogar diese Fahrt zu schätzen“. 

Die Festival-Saison ist in vollem Gange. Am Vortag standen sie im schweizerischen St. Gallen auf der Bühne. Viel Equipment liegt noch hinten im Sprinter. Im Obergeschoss ihres „HQ“ steht auf einem Whiteboard im Proberaum eine Setlist mit der Songauswahl für einen Festivalauftritt. Nebenan geht es an einer Küchenzeile vorbei auf den Balkon, mit bestem Blick aufs Alpenpanorama. Auf der anderen Seite dienen zwei Räume als Lager für Fanartikel. In einem weiteren steht ein schwerer Holztisch, auf dem einiges an Papierkram liegt. Was nicht drängt, fällt gerade hinten runter.

Die Vier sind eine vertraute Gruppe, herzlich und locker im Umgang. Sie wirken wie Studenten und haben mitunter auch studentenähnliche Probleme. Ärger mit den Nachbarn gab es hier bislang nur ein einziges Mal, sagt Waizenegger, „aber da haben wir auch Party gemacht“. Generell sei es schon schön zu sehen, wie sich die Leute mitfreuten über ihren Weg: „Der erste Artikel aus der Schwäbischen Zeitung hängt sicher an einigen Kühlschränken.“

Sollte jemand alle Artikel über das Quartett sammeln, reicht ein Kühlschrank nicht mehr aus. Denn ihr Mix aus Indie-Rock, Pop und Folk findet Anklang. Seit 2019 hat sich ein gewisses Momentum aufgebaut. 2020 sollte ihr erster großer Festivalsommer werden. Als Deutschland zum ersten Mal in einen Lockdown ging, wären es nur noch eineinhalb Wochen bis zur ersten eigenen Tour gewesen. Stattdessen: Vollbremsung, Warten – und auch ein wenig Hoffen, dass das Momentum anhält. Hat es. So viel lässt sich sagen.

Gegen fünfzehn Uhr ist ihr Auftritt noch gut vier Stunden entfernt. Entspannt sitzen sie rauchend an einer Feuerstelle gleich vor einem in die Jahre gekommenen Gebäude, wo die Band ihre Garderobe bezogen hat. Das Dockville-Gelände liegt in einem Gewerbegebiet im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, gleich am Hafen mit besten Blick auf einen alten Speicher. Das Festival ist ein bekannter Name in der Indie- und Elektro-Szene. Neben den zwei Hauptbühnen säumen viele kleinere und Holzaufbauten das Gelände, Kunst wird ausgestellt – vieles improvisiert, aber mit Charme.

Donnerstag standen sie in Jena auf der Bühne, am Morgen sind sie in Hamburg angekommen, erzählt Bösing. Seine Freundin ist für den Trip mit drei Konzerten dabei. Ein Kumpel der Band fährt ebenfalls mit. Im Backstagebereich des Dockville herrscht ein munteres Kommen und Gehen. Immer wieder begrüßen sich flüchtig Bekannte. Wer Zutritt zum Haus hat, versorgt Freunde davor mit Gratis-Getränken. Auch Waizeneggers älterer Bruder Lorenz schaut aus Berlin vorbei. Er ist Geschäftsführer der Provinz GmbH. Ein weiterer Beleg für das System Provinz: Vieles bleibt unter engen Vertrauten, die wie die Band in ihre Jobs reinwachsen mussten.

Chiara Berckhahn ist als Tourmanagerin neben der Technik-Crew an der Bühne die einzige im Tross, die am Nachmittag fast immer irgendwie beschäftigt ist. Setlist für die Gema hinterlegen, klären, wer wann wo zu sein hat – alles Organisatorische läuft bei ihr zusammen. „Manchmal ist sie so etwas wie die Kindergärtnerin“, sagt Bösings Freundin. Immer nett, aber bestimmt.

„2019 habe ich ein Praktikum bei Warner gemacht und war beim ersten TV-Auftritt der Jungs in Inas Nacht dabei“, blickt Berckhahn zurück. „Wir haben uns auf Anhieb sehr gut verstanden“. Mit dem Anruf ein Jahr später habe sie trotzdem nicht gerechnet. „Ein Warner-Kollege meinte, Provinz suchen nach einer Tour-Managerin und Vincent habe ihm meine Nummer gegeben. Ich wusste nicht einmal, dass er die hat“. Aus einem spontanen Quereinstieg ist ihr Hauptberuf geworden. Sie begleitet auch andere Künstler, „aber seit April lasten mich Provinz im Prinzip komplett aus“. Ganz ähnlich lief es bei Mike Kipper. Der Fotograf kommt aus der Heimat der Band. Kennengelernt haben sie sich aber erst bei einem Video-Dreh: „Mittlerweile sind die Jungs meine besten Freunde“.

Viel Zeit unter Fans auf dem Festivalgelände verbringen sie kaum, sagt Kipper, „am Ende sind wir ja auch zum Arbeiten hier und die Jungs wollen gut vorbereitet die bestmögliche Show abliefern.“ Also lieber Backstage entspannen. Keyboarder Schmid lässt sich gegen sechzehn Uhr zum Nightliner fahren. Die Busse von Künstlern stehen auf einem gut zehn Autominuten entfernten Parkplatz. Im November vergangenen Jahres seien sie schon mal mit einem Nightliner unterwegs gewesen, sagt Schmid: „Das Stressigste und Nervigste fällt so einfach weg. Einer von uns musste den Sprinter ja immer fahren und nach einem Auftritt ging es oft noch ein paar Stunden auf die Autobahn bis zum Hotel für den Zwischenstopp.“

Am Parkplatz angekommen, geht der Keyboarder die enge Treppe hoch in den zweiten Stock des umgebauten Reisebusses. Ein Gang führt an den vierzehn schmalen Schlafkojen vorbei zu einer Sitzecke über dem Fahrer. Unten am Eingang ist eine Toilette, Richtung Fahrerplatz sind zwei Tische eingebaut worden samt einer kleinen Küche, mit Kaffeemaschine und gut gefülltem Getränkekühlschrank. Schmid macht es sich oben bequem und schaltet die Play Station an. Fifa geht immer. Wenig später gesellen sich die anderen hinzu.

Nightlinerfahren ist ein großer Unterschied zum Touren im Sprinter, aber keineswegs Luxus. Vielmehr ein Zeichen für Professionalität und dafür, dass sie ein gewisses Level erreicht haben. Die Musikwelt mag glamourös erscheinen. Vor allem aber steckt viel Herzblut darin. Millionen häufen nur die wenigen Superstars der Branche an. Luft nach oben ist fast immer – mal mehr, mal weniger.

Fifa zocken ist eine Konstante, Rauchen eine andere. „Wir sind eine richtige Raucherband geworden“, sagt Schmid auf dem Balkon stehend. Nur Vincent versuche sich zurückzuhalten und zumindest nicht täglich zu rauchen. „Gelingt aber selten“.

Provinz ist seit mehreren Jahren ihr Vollzeitjob. Sänger und Gitarrist Waizenegger und Keyboarder Schmid spielen zusammen und schreiben Songs, seit sie zwölf Jahre alt sind. „Musik war zu Hause immer ein Thema“, sagt Waizenegger. Die Mütter der Cousins sangen in Chören, die Väter haben eine Cover-Band. Früher spielten die beiden unter anderem an einer Straße am Bodensee, „vor den reichen Rentnern“. Dann kam erst Bösing dazu, 2017 Sennewald, ein Schulfreund von Waizenegger. Ein wichtiger Schritt zum Beruf Musiker folgte wenig später: Die Aufnahme ins „Bandpool“-Förderprogramm der Pop-Akademie in Mannheim.

„Drei Jahre lang haben wir uns beworben“, erinnert sich Bösing. Einmal scheiterte es maßgeblich daran, dass er bei einem Anruf aus Mannheim gerade angetrunken war. „Da hat er alles an die Wand gefahren“, sagt Schmid lachend. 2018 lief es besser. „Maximal unsexy“ sei das Vorspielen gewesen, sagt Waizenegger. „Du stehst da vor zwei Tischreihen, an denen Leute aus der Branche sitzen und siehst nur wie sie schreiben und ihren Kopf bewegen, ohne dass du weißt, was sie denken.“ Das änderte sich schnell. „Wir hatten gleich die Qual der Wahl mit Angeboten von allen drei Majors und auch von Indie-Labels“, sagt Waizenegger.

Nicht alltäglich, „wir waren damals ja bloß eine Schülerband und noch lange nicht gefestigt oder professionell.“ Einer der großen Drei der Branche sollte es sein, das volle Programm eben. Am Ende fiel die Wahl auf Warner Music. Eine Gefühlsentscheidung, der Ansprechpartner sei ihnen einfach sympathisch gewesen, die Angebote waren vergleichbar. Bald war klar: „Wir ziehen das durch und setzen voll auf Musik, es gab ganz bewusst keine Exit-Strategie“, sagt Waizenegger. „Der Vorschuss war noch mal eine Extra-Motivation. Wenn Leute in dich investieren, willst du sie ja nicht enttäuschen“.

Bassist Bösing hat eine Ausbildung zum Erzieher gemacht, die beiden jüngsten Band-Mitglieder nur ihr Abitur. Schmid brach sein Studium für die Band ab. Die gut gemeinten Fragen nach einem parallelen Studium „so für die Sicherheit“ kommen mittlerweile nicht mehr. Ist ohnehin später noch Zeit. Der volle Fokus auf die Band sei notwendig gewesen, sagt Bösing: „Von dem Vorschuss von Warner konnten wir uns den Van kaufen und ein gutes Keyboard, wir mussten investieren – und auch mehr proben“. Das angespielte Selbstbewusstsein bekam erst einmal einen Dämpfer verpasst, als sie nach Mannheim und mit Profis in Kontakt kamen. „Rumpelig, aber sympathisch“, schrieb ein Booker ihrer Agentur Landstreicher irgendwann 2019 nach einem Auftritt an seine Kollegen. Das Urteil dürfte heute anders ausfallen.

„Dadadada – breathe – dadadada“ – Einsingen gehört auch für Bassisten und Schlagzeuger dazu. Im Backstageraum läuft auf der mitgebrachten Musikbox ein Übungsprogramm. Wobei das Engagement überschaubar ist im Vergleich zu Waizeneggers Warm-up einen Raum weiter. Über den Boden verteilt liegen geöffnete Koffer mit Klamotten. Von einer kleineren Bühne direkt neben dem Gebäude schwappen Songfetzen hinein. Der obligatorische Backstage-Kühlschrank steht in der Ecke. Auf einem der Sofas hat sich der jüngere ihrer beiden Manager hingefläzt. Kennengelernt haben sie ihn über die Pop-Akademie, wo er 2018 noch studierte. Nach einer Weile kommt Schmid rein, merklich angespannter als seine beiden offenbar wie den Tag über völlig lockeren Kollegen. Kurz darauf auch Waizenegger. Fürs finale Aufwärmen wollen sie unter sich sein.

Aus der Box kommen jetzt keine Übungen für Stimmbänder mehr, sondern laute Musik. Das Geschrei und gegenseitige Anfeuern wie in einer Fußballkabine kurz vor Anpfiff ist auch vor der Tür bestens zu hören. „Der Tag war so chillig, das brauchen sie um in den Modus zu kommen und mit der Nervosität umzugehen“, sagt Tour-Managerin Berckhahn und huscht kurz in den Raum, um noch etwas durchzugeben. Unten vor dem Gebäude wartet ein schwarzer Van auf die Band. Eine weitere Besonderheit am Dockville. Der Weg vom Backstage zur Bühne führt über einen für alle Festivalbesucher zugänglichen und viel genutzten Weg – keine schöne Aussicht für Künstler auf dem Weg zu ihrem Auftritt.

An der Bühne ist alles bereit. Ihre drei Crew-Mitglieder haben schon vor Stunden alles Equipment aus dem Anhänger am Nightliner hergebracht, aufgebaut, verkabelt und den Soundcheck gemacht. Eine Festivalbühne ist eine große komplexe Maschine. Jedes Rädchen muss ineinander greifen, die Ordnung eingehalten werden. Überall steht Material in großen schwarzen Boxen. Als Headliner des Abends, direkt nach Provinz, folgt Tash Sultana. Die meisten Sachen gehören zu ihrer Show. Was geht, steht auf Rollpodesten, damit der Umbau reibungslos verläuft. Der Ablauf ist minutiös geplant. Instrumentenwechsel, Ansagen, alles wird auf der Setlist an den Songs vermerkt. Zu überziehen ist keine Option. „Zehn Minuten Ansage bedeutet, zehn Minuten weniger für Musik“, fasst es Berckhahn zusammen.

Vor der Bühne sind schon Plakate zu sehen: „Vincent, ich tanz für dich“, „Vincent, du & ich zu zweit“. Gejohle schwappt nach hinten. Offenkundig sind hier einige vor allem für Provinz gekommen. Die Vier stehen betont locker am Aufgang zur Bühne und ziehen ihre In-Ear-Kopfhörer an, über die sie ihren Sound während der Show hören. Berckhahn gibt derweil die Minuten bis zum Start des Intros durch. Jeder kennt die Abläufe. Die Band steht im Dreieck auf der Bühne – Tabuzone für die Fotografen. Eigens für Bösing gibt es eine kleine Treppe aus Kisten am Schlagzeugpodest. Als das Intro beginnt, formen alle, die zum Provinz-Kosmos gehören, einen Kreis. Die letzten Ansagen zur Einstimmung, dann eine Umarmung, ein „gute Show“ von jedem und los.

„Für uns war immer klar, wir sind vor allem eine Live-Band, daher wollten wir live auch eher weniger abgeben und dann bei den Streamingeinnahmen eben etwas mehr“, sagt Waizenegger locker zurückgelehnt in einem alten weißen Metallstuhl auf dem Balkon. Live ist für sie wie für das Gros ihrer Musiker-Kollegen die wichtigste Einnahmequelle. Als Konzerte durch die Pandemie mit einem Schlag nicht mehr möglich waren, mussten auch sie erstmal schlucken. Eine Reaktion: den Fanartikel-Verkauf selbst in die Hand nehmen. „Wir wussten damals eh nicht, wie wir gerade Geld verdienen sollen“, sagt Waizenegger. „Zeit hatten wir ja sowieso, es hat aber auch Spaß gemacht, sich in einzelne Bereiche rein zu fuchsen und Strukturen zu schaffen.“

Das Band-Sein ist eine spezielle, intensive Beziehung. Ein Teil der Band wohnt auch zusammen in einer WG in Ravensburg. Naturgemäß steht Waizenegger als Sänger immer etwas mehr im Fokus. „Ich würde nie einen Song spielen, bei dem ich nicht weiß, der sitzt zu 100 Prozent, denn wenn ich mich verhaspele, merkt es jeder und ich bin der Depp.“ Könne aber auch hin und wieder sehr sympathisch wirken, wirft Bassist Bösing ein. Wenn man es eben locker nimmt und nicht verkrampft.

Die Bühnen dieses Jahr sind größer als alle anderen, auf denen sie zuvor gestanden haben. Mitte Juni spielten sie etwa als eine der ersten Bands des Festivaltages auf dem Southside vor 40.000 Leuten. Ihr „Heimatfestival“ und einer der größten deutschen Namen, eine Stunde entfernt von Ravensburg. „In dem Moment lässt du den Gedanken gar nicht zu, dass du gerade vor so vielen Leuten stehst, da bist du einfach im Profi-Modus und spielst“, sagt Bösing. „Erst danach, wenn du die Instagram-Stories siehst, realisierst du alles, das fühlt sich wie eine Belohnung an.“

Die Stimmung passt. Die vorderen Reihen – tendenziell jung und eher weiblich – singen textsicher mit. Hamburg ist ein gutes Pflaster für Provinz. Das haben sie vorher schon gesagt. Vielleicht liegt es an ihrer Art. Die Vier sind keine Virtuosen. Auch mit elektronischen Spielereien gehen sie sparsam um. Ihre Musik funktioniert über die Emotionen. Allen voran mit einem Frontmann, der seine ungekünstelten Texte teils mehr schreit oder krächzt als singt. Nah dran an der Lebenswelt ihrer jungen Fans und eben ihrer eigenen.

„Es ist immer super subjektiv, die Show kann super krass sein, aber du fühlst es einfach nicht so recht oder du hast einen schlechten Tag, heute war aber schon top“, sagt Sennewald später frisch geduscht vor dem Gebäude im Backstagebereich. Überhaupt: „Das Pensum ist hoch, aber davon abgesehen ist es ein sehr schöner Beruf.“ Sennewald, Kipper und Waizeneggers Bruder gehen später noch zum Auftritt von Pashanim. Ein gerade schwer gehypter Deutschrapper, der auf der Bühne vor dem DJ-Pult eine Sonnenbank auffährt. Alles entspannt und nicht so ernst gemeint: Kontrastprogramm zum rauen, emotionalen Provinz-Sound vor einer Stunde auf der Hauptbühne.

„Um null Uhr müssen wir raus sein, null Uhr fünfzehn fahren die Shuttles“: Tourmanagement ist ein Full-Time-Job und Chiara Berckhahn auch am Abend stets Herrin der Lage. Angekommen am Nightliner zählt sie noch einmal durch, dann verschwindet das Gros oben vorm Fernseher. Allzu spät wird es nicht mehr. Der Kühlschrank bietet viel, aber alte Rockstar-Klischees bedient hier keiner. Einer der Crew-Mitglieder erklärt schnell noch die Nightliner-Grundregeln: „Kein großes Geschäft im Bus – dafür wird angehalten – und mit den Füßen nach vorne schlafen, falls der Fahrer mal abrupt bremsen muss“. Von der Band muss das keiner mehr hören. An die neue Tour-Normalität gewöhnt man sich schnell.

Gepflegte Gärten wechseln sich ab mit Äckern und Gewerbegebieten, während der Nightliner das nächste Ziel ansteuert. Am kleinen Fenster neben der Koje laufen die Regentropfen herunter. Irgendwann kommen Reihen von Zelten in Sicht, vor denen Frühaufsteher in Regencape durch den Matsch gehen. Gegen neun Uhr erreicht der Bus den Parkplatz hinter einer der riesigen Bühnen. Stand am Vortag ein einziger Nightliner neben dem von Provinz, wartet hier eine ganze Phalanx rollender Teilzeitheime.

Das Highfield, knapp dreißig Kilometer südlich von Leipzig, gehört zu den Festivals, für die eine komplette Infrastruktur auf der grünen Wiese errichtet wird. Logistisch eine Mammutaufgabe, aber dafür hat man eben Ruhe, Platz und hier sogar einen See nebenan. Nur das Badewetter fehlt an diesem Samstag. Um die Schlammschlacht auf dem Parkplatz zumindest ein wenig zu begrenzen, verteilen Helfer mit Radladern Kies. Ein wenig aussichtsreiches Unterfangen. Der Busfahrer legt kurzerhand eine alte Bettdecke in den Eingangsbereich, wo sich später verdreckte Schuhe türmen werden.

Waren Provinz gestern noch Co-Headliner, spielen sie heute viel früher, als zweite Band am frühen Nachmittag auf der etwas kleineren der beiden Hauptbühnen. Hier wird einiges an Programm geboten: Das Finale werden später der Rapper Sido und Deichkind bestreiten. Doch der Abend ist noch weit weg und am Morgen keiner bereit, den warmen und trockenen Nightliner zu verlassen. Berckhahn und zwei der drei Techniker sind als erstes unten im Bus zugange. Zu regeln ist für eine Tourmanagerin immer etwas, und natürlich muss das Equipment zur Bühne.

Der Backstagebereich besteht hier maßgeblich aus zwei großen robusten Event-Zelten. Im vorderen finden sich die Garderoben. Deichkind als Headliner haben einen abgetrennten Bereich nur für sich. Das Frühstücksbuffet ein paar Meter weiter ist üppiger als in manchen Hotels. Ein Mitglied aus dem Tross der Punk-Band Donots zerkleinert mit diebischer Freude Möhren, ansonsten ist die Stimmung geschäftig ruhig. Von der Band sitzt nur Sänger Waizenegger gegen zehn Uhr beim Frühstück, während Tour-Managerin Berckhahn schon die Abreise plant. Sie muss nach Hamburg, einer der Techniker nach Hannover, die beiden anderen nach Berlin: „Reisekram ist echt am aufwendigsten.“

Gegen Mittag baden einige wackere Festivalbesucher im See. Für Künstler gibt es einen abgetrennten Strandstreifen. Aus der Band reizt der heute aber keinen. Nightliner und Spielekonsole sind bei dem Wetter noch anziehender. Aus dem Fenster im Oberdeck schauen sie auf die Menschenströme, die gegen dreizehn Uhr durch den Schlamm zu den ersten Auftritten gehen. Es sind nur wenige Meter, aber es wirkt wie eine andere Welt. „Da fühlt man sich schon ein bisschen schlecht“, sagt Sennewald in einer kurzen Fifa-Pause. „Wir waren ja früher auch oft als Fans auf Festivals, aber wenn du einmal die andere Seite kennst, willst du kaum mehr tauschen.“

Viele ihrer Freunde oder Familienmitglieder könnten sich nicht vorstellen, was hinter den Bühnen ablaufe, sagt Robin Schmid auf dem Weg vom Nightliner zur Garderobe. „Am Ende geht fast alles irgendwie noch fetter und noch größer.“ Das Material der Band fällt heute kaum auf, so viel Equipment fahren andere auf. Andere Voraussetzungen – auch für die Show. „Gestern war schon speziell, Hamburg ist seit einiger Zeit immer voll, fast ein Heimspiel“, sagt Schmid. Der frühe Slot heute sei nur das eine, dazu komme das Wetter. „Aber Matsch kann schnell auch ins Ekstatische umschlagen“. Fotograf Kipper klingt vor der Show weniger optimistisch: „Glaube, hier kommen sie nicht so rein, ist einfach weniger Provinz-Publikum da“.

An der Vorbereitung ändert all das nichts. In der Garderobe einrichten, umziehen, langsam eingrooven. Dann bleibt die Band wieder unter sich und wirft die Box an. Draußen zeigt Berckhahn, eine Viertelstunde bevor es auf die Bühne geht, noch kurz die Setlist für heute – abgestimmt zuvor per Whats-App-Gruppe. Zwei Songs weniger als in Hamburg. Oben angekommen, geht Bösing kurz zur Bühnenseite und kommt zufrieden zurück: „Für die Zeit ist schon gut was los“. Kurz darauf startet von der Anlage das Intro, der Provinz-Tross kommt zum Kreis zusammen, dann beginnt der dritte Auftritt innerhalb von drei Tagen.

Alles mitnehmen, was geht, auch wenn es anstrengend ist: So lässt sich ihr Plan für dieses Jahr zusammenfassen. Rar machen ist keine Option. „Wir werden auch schon viel für 2023 gebucht, aber da ist Gebietsschutz schon ein Thema“, sagt Sennewald. Mit dieser Klausel wollen Veranstalter verhindern, dass gefragte Acts kurze Zeit später auch ein paar Kilometer weiter spielen. Schränkt die Planung etwas ein, aber ist ein Zeichen einer erspielten Wertschätzung: „So haben wir auch etwas mehr vom Sommer“, sagt Bösing. Am nächsten Tag wird es mit dem Zug nach Berlin gehen, bevor am Wochenende wieder Auftritte folgen. In der Hauptstadt stehen Treffen mit ihrem Verlag, Universal Music und ihrer Booking-Agentur Landstreicher an. Nach den Festivals folgt die aus dem Frühjahr verschobene, ausverkaufte Tour. Pläne schmieden und Social-Media-Präsenz ist ohnehin eine Daueraufgabe. Die Musikwelt steht nie still – und Fans wollen bei der Stange gehalten werden. Erst recht, wo dieser Tage gut besuchte Konzerte keine Selbstverständlichkeit sind.

Eine Verbeugung noch und die Arbeit ist erledigt. Das Publikum ist nicht nur für einen Auftritt am frühen Nachmittag gut vertreten, es ist auch angetan von dem, was es hört und sieht. „Drei gute Shows“, applaudiert Berckhahn. Zuvor hatte sie dem Quartett noch per Handzeichen bedeuten müssen, dass sie Gefahr laufen zu überziehen. Während die Vier sich noch den Schweiß abwischen, kommen von beiden Seiten Helfer und Crew-Mitglieder und beginnen umzubauen.

Ab jetzt können sie selbst noch das Fan-Sein genießen – aus professioneller Perspektive. „Wenn du Shows vom Bühnenrand siehst, kannst du dir immer auch was abschauen“, sagt Sennewald. „Viele Kleinigkeiten bekommst du aus der Menge gar nicht so mit“. Später stehen er, Bösing und Schmid doch noch vor der Bühne. Zum letzten Solo-Festivalauftritt von Kraftklub-Sänger Felix Kummer sind keine Zaungäste am Bühnenrand erlaubt. Dafür kommt Sänger Waizenegger für einen Song auf die Bühne und wird mit Kummer gefeiert. Ein weiterer kleiner Baustein auf dem Weg nach oben. Denn all das soll ja nur der Anfang sein. Bald ziehen die vier nach Hamburg. Ganz neue Aussichten, aber derselbe Fokus.

Unterwegs mit der Band Provinz: Auf dem Sprung

Unterwegs mit der Band Provinz

Der Hype war da, doch dann kam die Pandemie. Mit zwei Jahren Verspätung hat die Band Provinz ihren ersten großen Festival-Sommer gespielt – und das soll erst der Anfang sein. Ein Besuch zu Hause in Oberschwaben und auf Tour.

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